Warum Print tot ist und was das mit Architektur zu tun hat

Dieser Essay erschien bereits in PzAuS (Positionen zu Architektur und Städtebau), einem von Architekturstudenten der TU-München gegründeten Publikationsmedium, das rein durch Texte – ohne Bilder und noch nicht digital – Architektur und Städtebau vermitteln will. 

PzAus erscheint, obwohl es spätestens seit der Jahrtausendwende neue Kommunikationsformen gibt, die ein lineares Durchkauen von Texten alles andere als zeitgemäß erscheinen lassen. Snapchat, Instagram, Blogs, E-books und die täglich auf das Smartphone geladene interaktive Tageszeitung stellen ein gedrucktes Heft erstmal in den Schatten.

Interessanterweise finden sich in dieser Diskussion einige Parallelen zur Produktion von Architektur. Inhalte werden immer weniger durch die klassischen Darstellungsmethoden wie Grundriss, Schnitt, Ansicht vermittelt, sondern vermehrt durch BIM-Modelle, Renderings und 3D-gedruckte Modelle. Dass diese Entwicklung nicht um jeden Preis sinnvoll ist, sollte klar sein. Doch auch an unserer Hochschule werden immer noch Versuche unternommen, diese Tendenz wenigstens zu entschleunigen. Unsere globalisierte Gesellschaft wird allerdings vor Aufgaben gestellt, die nicht durch Kulturpessimismus gelöst werden können, sondern eher durch neue Arbeitsprozesse, nie dagewesene Produktionsmöglichkeiten oder innovative Baustoffe.


Die Debatte ist nicht neu, was sich auch daran zeigt, dass sich die Kulturwissenschaften seit mehreren Jahrzehnten mit der Thematik befassen. In Bezug auf die Kommunikationsmedien, von dem auch die Architektur betroffen ist, lohnt es sich die Erkenntnisse des Medientheoretikers Marshall McLuhan und die des Architekturtheoretikers Mario Carpo genauer unter die Lupe zu nehmen. Da sich Carpo auf McLuhan bezieht, muss zu Beginn seine Auffassung des Begriffes Medium erklärt werden. McLuhan ordnet ihm die klassischen Unterhaltungsmedien, vielmehr aber auch unsere gesamte Infrastruktur zu. Medien sind für ihn nicht passive Vermittler, sondern aktive Werkzeuge, die den Nutzer in seinen Handlungen beeinflussen. Dass Architektur diesbezüglich eine Rolle spielen kann, lässt sich bereits erahnen. Beispielsweise gibt es eine Vielzahl an Bautypologien, die als Medien verstanden werden können.

Lineare, auf das Alphabet aufbauende Denkprozesse lösten die simultan verflochtene, nicht alphabetisierte Denkweise ab.

Die Gutenberg-Galaxis und der typographische Architekt
Für die beiden Theoretiker gab es in der jüngeren Geschichte zwei Schlüsselmomente, die unser Leben in großem Maße verändert haben. Ersterer fand im 15. Jahrhundert statt. Wissen (und damit auch Wissen über Baukonstruktion und Gestaltung) wurde bis dato primär oral vermittelt – die wenigsten Menschen konnten lesen und schreiben oder sich handschriftlich vervielfältigte Publikationen leisten. Dem gesprochenen Wort wurden fast magische Kräfte zugesprochen, da sie die Macht über Dinge zu besitzen schienen. Durch Erfindung des guttenbergschen Buchdrucks um 1450 wurde auf einmal die Vervielfältigung von Texten und Darstellungen massiv vereinfacht. Damit änderte sich auch unsere Gesellschaft: Lineare, auf das Alphabet aufbauende Denkprozesse lösten die simultan verflochtene, nicht alphabetisierte Denkweise ab. McLuhans Hauptwerk „Die Gutenberg-Galaxis: Die Entstehung des typographischen Menschen“ beschäftigt sich mit eben jenem Phänomen, das mit der Erfindung der Buchdruckmaschine losgetreten wird. Er beschreibt die Einführung des phonetischen Alphabets als „traumatische Erfahrung“: „Denn die Umsetzung der magischen, oralen Welt in die neutralen visuellen Symbole des phonetischen Alphabets ist (…) eine totale Metamorphose“.
Wie sich auch die Architektur vor dem Hintergrund der technischen Revolution des Buchdrucks veränderte, beschreibt Mario Carpo in seinem Essay „Die Entstehung des typografischen Architekten“. Der Titel spielt auf McLuhans Hauptwerk an und beschreibt, wie die technische Reproduzierbarkeit von Bildern sich auf die architektonische Kompostion auswirkte. In Folge der Machbarkeit von verlässlichen technischen Visualisierungen kommt es erstmals zu einer Standardisierung des architektonischen Entwurfs. Die Idee, dass der Entwurf eines Gebäudes aus einem festgelegten Repertoire architektonischer Grundelemente immer neu zusammengesetzt werden kann, entlehnt sich laut Carpo dem kombinatorischen System des Alphabets: „Als ein typografischer Komponist wählt der (…) Architekt vorentworfene Elemente aus und fügt diese anschließend zusammen – Elemente deren Zusammenstellung im einen Fall eine Letternreihe und in einem anderen Fall ein architektonisches Syntagme hervorbringen können.“ Die Logik des alphabetischen Ordnungssystems hat sich also in den kreativen Denkprozess der schaffenden Architekten und folglich in die Gestalt der europäischen Lebenswelt übertragen.
Der als traumatisch beschriebene Umbruch in das linear-phonetische Zeitalter brachte nicht nur die kombinatorisch-lineare Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsweise unserer Gesellschaft hervor, sondern auch den bis heute prägenden Baustil der Renaissance.

Man sieht nicht mehr linear, sondern benutzt alle Sinnesorgane für die Informationswahrnehmung. Alles kann jetzt gleichzeitig stattfinden, ist nicht fest definiert und organisiert sich jeden Moment neu.

Vom Alphabet zum Algorithmus
Der zweite, aktuellere Schlüsselmoment findet ab Mitte des 19. Jahrhunderts statt und spitzt sich seit den 1990er Jahren zu. Der Übergang vom klassischen Buchdruck zur elektronischen Datenverarbeitung und zu den neuen Reproduktionsmöglichkeiten sind, McLuhan nach, Kennzeichen einer „Revolution der sinnlichen Wahrnehmung“. Sie beginnt mit der Erfindung des Telegraphen und des Telefons, geht über Radio, Fernsehen und Computer bis zur weltweiten Verbreitung des Internets. Letzteres konnte er nur erahnen, da seine Forschungstätigkeiten vor dieser Zeit stattfanden.
Erste Ansätze für den Umbruch macht McLuhan bereits im 18. Jahrhundert aus. Er spricht von einer „Rebellion gegen die rein visuelle Kultur“, angestoßen durch Vertreter der Aufklärung. „Diese Gegner der abstrakten, visuellen und mechanischen Ordnung betonten die Synästhesie, die Ganzheit“. Die Synästhesie, ein Schlüsselbegriff in den Werken des Kulturtheoretikers, meint die Verknüpfung von Sinnesorganen bei der Wahrnehmung eines Reizes – es kommt also nicht zur Stimulation eines einzelnen Sinnesorgans, sondern zu einem gleichzeitigen Zusammenspiel Mehrerer.
Aber nicht nur Vertreter der schönen Künste rebellieren gegen die als kalt und zu linear empfundene Zeit, selbst die sachliche Wirtschaftsproduktion erkennt spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts, dass das lineare Nacheinander in Produktion, Management und Entscheidungsfindung (ursprüngliche Errungenschaften der industriellen Ökonomie) den modernen Anforderungen nicht mehr gerecht wird. Das Fließband – eines der Hauptkennzeichen der industriellen Fertigung – verlor immer mehr an Bedeutung. Aufgaben wurden von nun an synchron und elektronisch übermittelt und von Mitarbeitern mit unterschiedlichen Kompetenzen ausgeführt.

Diese Entwicklungen lassen die Architekturproduktion nicht unberührt – weniger der Telegraph oder Fernseher, umso mehr die digitalen Medien. Carpo macht erste Anzeichen in den 1970er Jahren aus, die mindestens den Wunsch nach einer Revolution haben. Ihm zufolge waren es die Architekten der Postmoderne, die pluralistische und demokratische Gedanken – gegen Hierarchie, Linearität und Mechanisierung – aufgriffen und in ihrer Baupraxis manifestieren wollten. Der Einsatz für Differenzierung, Variation und Wahlfreiheit waren eines der großen Versprechen seit den siebziger Jahren. Tatsächlich konnten diese Visionen mit traditionellen Bauweisen nur teilweise umgesetzt werden, was die Postmoderne später in die Krise führte. Was seiner Meinung nach gefehlt hatte, war Variabilität. Genauer gesagt eine unbestimmte Variabilität, die etwas nicht Lineares, sondern Vitalistisches in sich habe. Übrigens vertraten viele Vertreter der Postmoderne einen humanistischen und phänomenologischen Anspruch. Das Film- und Fernsehgenre Science Fiction spielte schon früh mit dem Gedanken der künstlichen Intelligenz, bis schließlich die digitale Wende um 1990 kam: Das Internet, das ursprünglich für militärische Zwecke entwickelt wurde und sich im Störungsfall „organisch“ neu vernetzen soll, wird massentauglich – der Traum postmoderner Intellektueller ist schließlich wahr geworden.

Carpo entwirft im Anschluss mehrere Szenarien, wie digitale Planungsmethoden die Architekturproduktion beeinflussen können. Beim „Wikipediastil“ wird ein Objekt von mehreren Akteuren angefertigt und ist beständig offen für interaktive und teilnehmende Bearbeitung. Die heute schon genutzte BIM-Methode ist dem am nächsten; Informationen über einen Entwurf oder ein fertiges Gebäude sind für die Beteiligten einsehbar und können jederzeit aktualisiert werden. Beim „Evolutionären Entwerfen“ werden beliebige Variationen eines Objektes erzeugt, die auf Basis von digitalem Feedback selektiert werden und sich sich so selbst organisieren. In der „Digitalen Formfindung“ wird das Verhalten von zu benutzenden Materialien digital untersucht um daraus neue Formen zu generieren.

Das Digitale und vor allem das Internet ist die Krönung aller Prognosen für ein neues Zeitalter – das Ziel, das synästhetischste Medium zu schaffen, wurde vorerst erreicht. Man sieht nicht mehr linear, sondern benutzt alle Sinnesorgane für die Informationswahrnehmung. Alles kann jetzt gleichzeitig stattfinden, ist nicht fest definiert und organisiert sich jeden Moment neu.
Was wir konkret daraus lernen können – sowohl für ein Publikationsmedium als auch für die Architekturproduktion – ist natürlich schwieriger zu beantworten. Wir sind die erste Generation, die die neuen Planungsmethoden von Beginn an mitkriegt und mehr oder weniger auch erlernt. Wir haben die Chance, den Architekturdiskurs neu zu beleben. Auch haben wir die Chance, Publikationsmedien neu zu denken. Weg von einer linearen Aneinanderreihung vieler Texte, hin zu einem neuen Umgang mit den Medien. Ob Snapchat-Channel, Podcast oder partizipative Plattform – wie das im Endeffekt aussehen
kann, muss ausprobiert werden.

Es liegt an uns, revolutionäres Potential zu erkennen und zu nutzen – nicht ohne uns den neuen Medien zu bedienen.

PS:
Nicht ohne Grund taucht der Begriff Revolution mehrmals in diesem Text auf. Neben einer technischen Revolution soll es auch um eine Revolution gehen, die gesellschaftliche Diskurse ankurbelt. Hans-Magnus Enzensberger, einer der Denker der deutschen Nachkriegsgeschichte, erkennt schon vor mehreren Jahrzehnten das große Potential, das die elektronische Datenverarbeitung mit sich bringt. „Wer sich (aber) Emanzipation von einem wie auch immer strukturierten technologischen Gerät oder Gerätesystem verspricht, verfällt einem obskuren Fortschrittsglauben (…).“ Denn dass damit automatisch emanzipatorische Kräfte hin zu einer besseren Gesellschaft entfaltet werden – er plädiert übrigens für den Sozialismus – ist anzuzweifeln. Wer allerdings die digitalen Medien für eine rein kapitalistische Masche hält, irrt ebenso.
Es liegt nun an uns, revolutionäres Potential zu erkennen und zu nutzen – nicht ohne uns den neuen Medien zu bedienen. Und das gilt sowohl für die Publikationsmedien als auch für die Architekturproduktion.

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